Die Mär von der Spannung im Fußball

Ich hatte einst eine Deutschlehrerin, die zu jener Spezies Lehrer gehörte, die leider vollkommen den Beruf verfehlt hatte. Sie hatte keine Geduld und kein Verständnis für Jugendliche, der Schulstoff war ihr zu langweilig und dröge, sie tolerierte nie andere Meinungen als ihre eigene. Die Frau war eine Katastrophe als Lehrerin, und wenn ich von ihr doch nur Negatives in Erinnerung behalte, eine wichtige Sache hat sie mich gelehrt. Sie duldete in Buchbesprechungen nicht das Urteil, das „Werk“ (Buch darf man ja nicht sagen!) sei langweilig. „Spannung ist kein Kriterium großer Literatur!“, betete sie uns vor.

So ungern ich es zugebe: Die Frau hatte Recht. Und zwar nicht nur in Bezug auf Literatur. Große Filme brauchen keine Spannung. Große Videospiele auch nicht. Und großer Fußball erst Recht nicht.

Es wundert mich immer wieder, dass selbst professionelle Schreiberlinge, die mit Fußball ihr Geld verdienen, letzteres nicht verstehen können bzw. wollen. Ich schaue rund 200 Fußballspiele im Jahr. Die Mehrzahl dieser Spiele ist – nach Gesichtspunkten der Spannung und Dramatik – pure Langeweile. Es wird immer wieder gesagt, der Fußball sei so toll, weil alles passieren kann. Klar, nur passiert nur sehr selten alles und sehr oft nichts. Ein Team geht in Führung und gewinnt – so laufen gefühlt 75% aller Fußballspiele. Der entscheidende Treffer in der Schlussphase oder das verrückte 4:4 sind die absolute Ausnahme (und selbst bei solchen Spielen ist nicht gesagt, dass nicht auf 80 Minuten Langeweile 10 Minuten Spannung folgen).

Fast schon absurd erscheint mir unter diesem Hintergrund der Vorwurf, der FC Bayern mache die Liga langweilig. Die Liga, das können Sie mir als zumeist neutralem Zuschauer glauben, ist auch so eher selten spannend. 50% der Ergebnisse konnte ich in LizasWelts Tippspiel diese Saison richtig vorhersagen – und mit diesem enttäuschenden Ergebnis bin ich nicht einmal in den Top 50. Nicht nur der Ausgang der Partien mit Bayern-Beteiligung, sondern auch der meisten anderen Partien ist vorhersehbar.

Und selbst wenn es doch einmal zur Sensation kommt, heißt das keineswegs, dass das Spiel hochklassig sein muss. Wie oft habe ich in meinem Leben schon erleben „dürfen“, dass ein Team sich mit einem 4-4-2-Mittelfeldpressing gegen einen überforderten Favoriten einmauert? Das macht Spaß, solange man es einmal pro Jahr erlebt. Wenn man sich aber berufsbedingt viele solcher Trauerspiele antun muss, macht es keinen Spaß. Es ist Leid pur.

Großer Fußball braucht keine Spannung. Und genau darum schaue ich mir in dieser Saison die Spiele der Bayern lieber an als die Spiele sämtlicher anderer Bundesliga-Teams. Weil ich etwas geboten bekomme, was ich nicht jeden Tag sehe. Weil Pep Guardiola sein Team von Spiel zu Spiel neu erfindet. Weil er Innovationen wie den falschen Außenverteidiger einbaut, während andere Teams das xte Spiel in Folge auf ein 4-4-2-Mittelfeldpressing setzen. Weil das, was die Bayern spielen, einfach großartiger Fußball ist. Und das sage ich als jemand, der ansonsten eher kein fanatischer Anhänger des Ballbesitzfußballs ist.

Natürlich ist es schön, wenn ein gegnerischer Trainer sich etwas einfallen lässt und die Bayern ärgert. Aber es macht auch Spaß, wenn dies nicht der Fall ist. Auf jeden Fall mehr Spaß als ein 1:0 irgendeines Mauerbollwerks gegen ein Team ohne Offensivstrategie.

15 Antworten to “Die Mär von der Spannung im Fußball”

  1. Geert H Says:

    Guter Beitrag. Aber das darf man ja auch anders sehen. Ich will sehr wohl Spannung in der Liga.

  2. Max Says:

    Hm, ich kann den Artikel nachvollziehen. Sehe aber ein Problem, im Verständnis des Begriffs „Spannung“.

    Natürlich ist Fußball in Bezug auf einzelne Spiele häufig nicht spannend – aus den unterschiedlichsten Gründen.
    Soweit ich die Darstellung in den Medien beobachte, bezieht sich diese „Langeweile-Diskussion“ doch eher auf die Liga als Ganzes – und diesbezüglich teile ich die Kritik.
    Ein Spiel muss nicht spannend sein, um gut zu sein.
    Die Saison einer einzelnen Mannschaft kann auch „nur“ gut sein, ohne Spannung in der Liga.
    Aber die Bundesliga, als sportlicher Wettbewerb, braucht doch ein gewisses Maß an Spannung (oder besser: Unvorhersehbarkeit), um interessant zu sein. Wenn ich vorher schon weiß, wie es ausgeht, dann ist ein sportlicher Wettbewerb nicht interessant.
    Wir schauen ja auch gerne zu, wie der schnellste Mensch der Welt ermittelt wird; ein „Wettmessen“ um den größten Menschen wäre vermutlich wenig interessant.

    • t0bstar Says:

      In der Tat, es bezieht sich auf einzelne Spiele. Wobei ich die Diskussion um die „unspannende Meisterschaft“ für noch seltsamer halte. Eine Meisterschaft ist eine Ansammlung von Spielen, die ein Team jedes für sich gewinnen will. Ich schaue keine Meisterschaft, ich schaue Spiele. Natürlich kann eine interessante Konstellation in der Meisterschaft ein Spiel im Vorhinein massiv aufwerten – siehe Clasico am vergangenen Wochenende. Allerdings bedeutet das noch nicht, dass ein Spiel deshalb automatisch besser oder spannender werden muss. Natürlich sind es tolle Geschichten, wenn Manchester City in der letzten Sekunde die Meisterschaft perfekt macht. Das wertet aber die Ligaspiele davor nicht auf und macht sie nicht „spannender“ geschweigedenn qualitativ besser. Bei den Bayern ist es dieses Jahr einfach so, dass jedes Spiel irgendwas zu bieten haben. Das ist mir persönlich lieber.

      Ganz ab davon: Niemand zwingt die anderen Teams, schlechter als die Bayern zu sein. Finanziell sind das andere Welten, ok. Aber der FC Bayern ist jedem anderen Bundesliga-Team im Moment taktisch voraus. Das ist nicht Gott gegeben und war vor drei Jahren noch komplett anders.

  3. PeterLustig Says:

    Das ist irgendwie typisches Nerdgequatsche. Als Fan einer Mannschaft würdest du anders denken und die Langeweile und gefühlte Ohnmacht gegenüber der finanziellen Überlegenheit der Bayern nachvollziehen können.

    • t0bstar Says:

      Natürlich. Fans haben den Vorteil, dass sie in vielen Spielen emotional involviert sind. Da wird selbst ein 0:0 zur Seelenqual, wenn das eigene Team bis kurz vor Schluss unter Druck steht. Auch kann man oftmals etwas aus Spielen ziehen, bei denen die eigene Mannschaft gar nicht mitspielt, einfach weil man einen Sieg oder eine Niederlage von Mannschaft Y braucht oder weil BVB-Fans Spaß an der Schalke-Krise haben. Deshalb geht es in dem Beitrag ja auch um Fußballspiele als solche und nicht das Spiel des Lieblingsvereins.

      Das eine hat daher mit dem anderen, hier aufgeworfenenen Punkt wenig zu tun. Dazu kann man den Literatur-Vergleich bemühen: Fast jeder liest gerne einen Krimi; man entspannt gerne mit spannenden Büchern. Nur: Wer viel Bücher liest, erkennt irgendwann die immer selben Stereotypen und Stilmitteln in diesen Büchern. Der liest dann eben lieber einen Murakami oder etwas von Toni Morrison.

      Die Kritik des Textes richtet sich daher nicht an solche Leute, die ab und zu gerne ein spannendes Fußballspiel sehen; es geht um die Leute, die fordern, guter Fußball habe spannend zu sein und die meinen, es sei nicht erbaulich, die aktuellen Spiele der Bayern zu sehen. Es fordert ja auch kein Literaturexperte den Nobelpreis für einen Krimi.

      • Max Says:

        „…es geht um die Leute, die fordern, guter Fußball habe spannend zu sein und die meinen, es sei nicht erbaulich, die aktuellen Spiele der Bayern zu sehen.“

        Aber wer sagt das denn? Ich lese jetzt nicht jede Fußball-Zeitschrift, die auf dem Markt ist, meiner Meinung nach ist der Tenor doch:
        „Der FCB spielt hervorragend, aber in der Liga ists halt langweilig“.

  4. Max Says:

    Ich bleibe dabei: man sollte klar zwischen „Qualität“ und „Spannung“ unterscheiden.
    Das eine hat mit dem anderen im Fußball eben nur wenig zu tun, aber beides hat seine Berechtigung.
    Im Idealfall kommt beides zusammen (CL-KO-Spiele), im schlechtesten Fall hat man beides nicht.

    Jetzt hat man eben einen FCB mit sehr viel Qualität, aber wenig Spannung in der Liga.
    Dass das immer gleich als Vorwurf an den FCB gewertet wird, finde ich albern. Im ersten Schritt ist es doch erstmal eine Zustandsbeschreibung (die du eben für irrelevant hältst, andere eben nicht). In einem zweiten Schritt kann man überlegen, warum das so ist. Und da fallen dann vermutlich viele Aspekte ein: vielleicht ein taktisch überlegener Trainer, vielleicht auch sehr ungleiche finanzielle Möglichkeiten. Aber das soll ja hier nicht Thema sein.

    • t0bstar Says:

      Da stimme ich dir voll zu. Ich will ja auch keineswegs die Spannung verteufeln. Nur bedeutet Spannung nicht gleich Qualität, und Fußball kann auch Spaß machen, wenn er nicht spannend ist. Leider wird das oft vergessen – daher der Blogbeitrag.

      • Max Says:

        …und er kann auch Spaß machen, wenn er qualitativ nicht gut ist, aber spannend. Daher mein Einwand 😉

  5. Andi Says:

    Ich glaube auch, dass hier ein wenig ein Missverständnis vorliegt – der Vorwurf der Langeweile hat meinem Eindruck nach wenig bis gar nichts mit knappen Entscheidungen in letzter Minute oder mit Spieltaktik zu tun, oder überhaupt mit den Spielen an sich, sondern mit der Tabelle. Der FCB kommt langweilig daher, weil es extrem schwer ist, eine emotionale Verbindung zu einem Club aufzubauen, für den es schon eine außergewöhnlich schlechte Saison ist wenn man die CL-Teilnahme verpasst. Seit der Wiedervereinigung hat der FCB nur fünf Saisons nicht als Meister oder Vizemeister beendet und war nur einmal auf einem zweistelligen Tabellenplatz. Beim BVB waren es schon 16 Saisons ohne Titel oder Vize-Titel, mit vier zweistelligen Tabellenplätzen. Das ist immer noch sehr herausragend, aber enthält schon mehr Dynamik. Oder extremer: Der FSV Mainz ist in den ersten drei Klopp-Jahren 2001-2004 dreimal haarscharf im letzten Moment am Aufstieg in die 1. Liga vorbeigeschrammt, bevor es geklappt hat, und war seitdem einmal wieder abgestiegen. Da ist Emotion drin! Das ist unberechenbar(er)! Mit solchen Auf-und-Abs kann der FCB nicht dienen. Da steckt irre Leistung hinter, klar, das kommt aber insgesamt so weltfremd daher wie die Speisekarte im Sternerestaurant.

    • t0bstar Says:

      Aber das ist doch genau mein Punkt, oder? Die Auf-und-Abs machen Spaß, wenn man emotional involviert ist als Fan. Als neutraler Zuschauer, der viel Fußball schaut, machen sie nicht immer Spaß. Ich wehre mich auch gar nicht dagegen, dass jemand Spaß an spannenden Fußballspielen hat; es geht mir eher darum, dass wirklich großer Fußball nichts mit Spannung zu tun hat, sondern auch vollkommen ohne Spannung existieren kann. Wie bei den Bayern aktuell.

      Ganz ab davon: Dein letzter Vergleich trifft es doch eigentlich richtig gut. Die Speisekarte mag weltfremd sein, das Essen jedoch ist saulecker.

      • Max Says:

        …aber, um im Bild zu bleiben, Sterneküche ist halt nix für die Masse.

      • Andi Says:

        Jein. Mit dem Missverständnis meine ich, dass bei der Frage oft auf zwei verschiedenen Ebenen argumentiert wird, was einen Konsens natürlich erschwert. Um den Punkt mal stark zuzuspitzen:

        Wer sich für Fußball als sportliche Tätigkeit interessiert, findet den FCB grandios. Wer sich für Fußball als Vereinswettbewerb interessiert, findet den FCB öde.

        Oder kürzer: Spielgucker vs. Tabellengucker. Und letztere stellen die Mehrheit.

  6. Lukas Tank Says:

    Super Artikel. Eines meiner Lieblingszitate, die gut beschreiben, was ich an absolutem Spitzenfußball – und den verkörpern die Bayern ja aktuell ohne jede Frage – liebe, stammt aus einem Essay von David Foster Wallace über Roger Federer:

    „Beauty is not the goal of competitive sports, but high-level sports are a prime venue for the expression of human beauty. The relation is roughly that of courage to war.

    The human beauty we’re talking about here is beauty of a particular type; it might be called kinetic beauty. Its power and appeal are universal. It has nothing to do with sex or cultural norms. What it seems to have to do with, really, is human beings’ reconciliation with the fact of having a body.“

    Kann man denke ich genau so auf den ungleich komplexeren Teamsport Fußball anwenden.

  7. #Link11: Die Luft ist raus | Fokus Fussball Says:

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